Bekenntnisse

Die „Lügenpresse“ und der
Wechsel der Perspektive

Nr. 636 – vom 19. Januar 2015
Ich habe am letzten Sonnabend nach meiner Vorstellung mit guten Freunden zusammengesessen, und wir haben lange und durchaus kontrovers diskutiert – auch über den Begriff der „Lügenpresse“. Und irgendwann kamen wir auf die Berichterstattung über die Pariser Massen-Demonstration nach den Terror-Morden zu sprechen. Angeblich „an der Spitze des Demonstrationszuges“ – so wurden wir unterrichtet, auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF – waren da allerhand Staatsoberhäuptlinge (plus einer Häuptlingin) im Anmarsch. Wir wissen inzwischen, das Ganze war ein kurzes PR-Foto-Shooting weitab von den späteren Nachzüglern in einer abgesperrten Straße.

Nun kann doch jeder vernünftige Mensch verstehen, dass man eine derartige Anhäufung von allerhöchsten Staatsmännern (plus einer Männin) aus Sicherheitsgründen nicht einfach bei den Massen mitziehen lassen kann. Die Frage ist nur: Warum wurde uns genau der gegenteilige Eindruck vermittelt? Die Fernseh-Kamera hätte ja nur ein wenig fernsichtig in die Höhe schwenken müssen, um uns sehen zu lassen, dass hinter den Oberhäuptern nur noch ein paar Reihen von zwangsverpflichteten Sicherheitsbeamten im Einsatz waren, aber ansonsten kein demonstrierendes Volk zu sehen war. Mit wenigen erklärenden Worten hätten die Gründe für diese Extra-Manifestation dem halbwegs einsichtigen Zuschauer vermittelt werden können. Aber nein, wir sollten es nicht wissen, weil es das hübsch inszenierte Gesamtbild etwas eingetrübt hätte. Erst als im Internet dann Fotos aus etwas höherer Perspektive erschienen (nicht etwa in unseren Zeitungen), sah man die Täuschung, die nicht nur eine optische war.

Tscha, und wenn schon aus so einem vergleichsweise geringfügigen Anlass die Wahrnehmung der Öffentlichkeit von unseren Medien so einverständig mit der vorschriftlich abzubildenden Meinung getäuscht wird – und diese Öffentlichkeit sind Sie, und ich bin es auch; was soll man dann eigentlich bei solcher manipulierten Wahrnehmung noch für wahr nehmen?

Dennoch: Das Schlagwort von der „Lügenpresse“ trifft den Sachverhalt nicht. Das lässt sich am Beispiel der in Paris inszenierten Extra-Demonstration auch gut demonstrieren. Wir wurden ja nicht belogen: Dieser Fototermin hat tatsächlich stattgefunden. Nur die Perspektive war eine sehr einseitige, eine platt-horizontale. Ein leicht erhöhter Perspektivwechsel hätte uns eine übersichtlichere und damit bessere Ein-Sicht gewährt; und genau das wollte man uns nicht zumuten. Diese Art der Information aus eingeschränkter Eins-zu-Eins-Perspektive nennt man auch Propaganda. Viel zu viele Beispiele könnte ich da aus 25 Jahren Nach-Wendezeit benennen (und das tue ich auch auf der Bühne).

Im Augenblick ist es eher die einseitige Nicht-Berichterstattung über das Dritte-Welt-Elend mitten in Europa, besonders in Griechenland, die mich wütend macht. Die Satanisierung der Linkspartei Syriza gehört auch dazu. Einen Perspektivenwechsel darf ich da gar nicht erwarten. Aber für mich als zahlenden Zuschauer wäre es schon ein freundlicher Service, wenn die Kamera mal ein bisschen höher schwenkt und mir einen Überblick gibt.

Und in der Berichterstattung über die Ukraine geht’s mir nicht anders. Ich beklage mich nicht darüber, dass ich bei uns in Presse und Fernsehen nur die Wahrheiten und Halbwahrheiten und Unwahrheiten von ukrainischer Seite lese und höre. Ich beklage, dass ich nicht mit gleicher Ausführlichkeit die Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten von russischer Seite erfahre, sondern nur die Halbwahrheiten. Mein simpler Wunsch als zwangsverpflichteter Fernseh-Gebührenzahler ist, dass ich halbwegs zuverlässig informiert werden will und nicht nur abgefüttert werde mit NATO-konformen Informationen.

Vielleicht lüge ich mir mit solchen Erwartungen selbst in die Tasche. Dann wäre das, was ich in dieser Kolumne betreibe, wohl auch so etwas wie Lügenpresse. Zumindest ist das, was ich hier mache – das kann ich Ihnen versichern – keine Wahrheitspresse. Letzte Wahrheiten müssen Sie schon selber finden. Bei mir gibt’s nur Zweifel im Sonderangebot.