Bekenntnisse

Ich bin nicht Charlie!

Nr. 632 – vom 9. Januar 2015
Ich bin Martin. Je ne suis pas Charlie. Ich empfinde kalte Wut und hilflosen Schrecken, wenn ich an die ermordeten satirischen Kollegen von „Charlie Hebdo“ denke. Aber ich bin nicht Charlie. Davon gibt es inzwischen zu viele. Zu viele falsche.

Plötzlich sind alle Charlie. Sogar die NATO. „Wir stehen in voller Solidarität bei unserem Verbündeten Frankreich”, ließ der Generalsekretär verkünden. Wird die NATO demnächst als Herausgeber von „Charlie Hebdo“ fungieren? Und wird Gauck Gast-Kolumnist bei der „Titanic“?  Denn auch der Bundespräsident erklärte im deutschen Namen: „Wir sind Charlie“. Die Zahl der Charlies wächst von Stunde zu Stunde, von einer Betroffenheitserklärung zur nächsten. Die CSU ist Charlie. Die „FAZ“ ist Charlie. Die „Welt“ ist Charlie. „BILD“ ist Charlie. Und. Und. Und.

Auch die Heuchelei heißt Charlie. „Ein Angriff auf die Pressefreiheit!“ – so das einhellige Medien-Echo auf die Todesschüsse. Pressefreiheit – nur zur Erinnerung – nennt man eigentlich einen Zustand, wenn missliebige Blätter von der Regierung weder zensiert noch im Vertrieb behindert noch verboten werden können. „Charlie Hebdo“ – nur zur Erinnerung – ist ein Satire-Magazin, das entstand, weil das Vorgänger-Blatt von der Regierung mehrfach zensiert, im Vertrieb behindert und schließlich verboten wurde. Kaum ein deutscher Kommentator fand das damals einer Erwähnung oder gar eines Protestes wert.

Auch die Perfidie heißt Charlie. Die „FAZ“ bringt in einem Kommentar ganz pressefreiheitlich die zunehmende Kritik an mancher Berichterstattung unserer Leitmedien in einen Zusammenhang mit den Terrormorden von Paris. Dabei hilft dem Schreiber die NS-Parole von der „Lügenpresse“, die von den Schreihälsen in der sächsischen Landeshauptstadt wiederbelebt worden ist. Was der Autor natürlich nicht erwähnt, ist, dass „Charlie Hebdo“ sich immer als eine Zeitschrift der Gegenöffentlichkeit verstanden hat, auch um gegen die oft einseitige Berichterstattung der vorherrschenden Medienkonzerne anzugehen.

Auch die mediale Brutalität heißt Charlie. „BILD“ erklärt uns am Freitag: „Warum wir die Überwachung der NSA gegen den Terror brauchen?“. Zunächst wird da Edward Snowden zum weltweit gefährlichsten Terror-Unterstützer gemacht, weil „niemand der Verhinderung von Terroranschlägen so sehr geschadet hat wie Edward Snowden mit all dem, was er über technische Überwachung enthüllt hat“. Und: „Snowden konnte nur zum Helden werden, weil Millionen Menschen in Europa nicht an die Bedrohung geglaubt haben, die nun in Paris real wurde.“ Und: „Der Westen befindet sich im Krieg gegen den islamistischen Terrorismus. Und im Krieg geht es darum, den Feind so gezielt wie möglich zu töten.“ Logischer Schluss: Da der Hauptfeind Edward Snowden heisst, muss erst einmal eine Todesdrohne her, um ihn als Nummer 1 gezielt zu töten. Eine mörderische Propaganda, gegen die sich die Mordopfer in der Redaktion von „Charlie Hebdo“, allesamt erklärte Kriegsgegner, nicht mehr wehren können. Man Springer-stiefelt bei „BILD“ über die Leichen einfach hinweg. Wie meinte einst Wolfgang Neuss: Man kann manchmal gar nicht so viel kotzen, wie Springer einem zu lesen gibt.

Auch die Perversion heißt Charlie. In Frankreich sind plötzlich die Fremdenhasser von der Front National, gegen die „Charlie Hebdo“ immer angekämpft hat, alle Charlies. Garantiert werden auch die mal wieder erwachten Dumpfdeutschen in Dresden am nächsten Montag allesamt Charlies sein. Mit schwarzen Trauer-Schleifen sollen sie nach dem Willen des brandenburgischen AfD-Gauleiters demonstrieren. Jeder islamophobe Fundamentalist darf auf einmal Charlie sein. Das könnte so manchen rechten Mordskerl mal wieder ermuntern. Wahrscheinlich waren auch die NSU-Killer Charlies. Sie haben es nur nicht gewusst.

Nein! Ich bin kein Charlie. Es gibt zu viele. Zu viele falsche.

PS. Noch viermal spiele ich mein Programm „Nachspielzeit“ in Berlin – Jeden Sonnabend im Januar um 20 Uhr bei den „Wühlmäusen“.