Bekenntnisse

Wenn die geheimen Reißwölfe heulen

Nr. 559 – vom 16. November 2012
„Ein bedauerliches Versehen“ – so sprach die oberste Berliner Verfassungsschredderin, bevor sie freiwillig zurückgetreten wurde. Ganz aus Versehen hatte man auch in Berlin die Akten über die Neonazi-Szene durch den Reißwolf gejagt. So etwas kann schon einmal passieren – oder eben auch zweimal oder dreimal. Beim Bundesamt für Verfassungsverhütung hatte das Chef-Verhüterli (Fromm mit Namen) aus gleichem Grund sein Hütchen nehmen müssen. Danach folgten die Amtskollegen in Thüringen und Sachsen und Sachsen-Anhalt. Und nun noch dies: „Berliner Verfassungsschutz kopflos“, schlagzeilt die „Berliner Zeitung“. Aber was braucht man da Köpfe. Wichtig sind die verbleibenden Ärsche, die genügend Sitzfleisch beweisen. Und für die braucht man genügend Klopapier. Aber dafür haben wir ja das Grundgesetz, unsere Verfassung. Schließlich kann man sich nicht mit geschredderten Papierstreifen den geheimdienstlichen Hintern wischen.

Nun also herrscht im Berliner Senat mal wieder das Tohuwabohu. Es regiert das Chaos. Klaus Wowereit als Mit-Regierender erklärt dazu: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, als sei die Sensibilität, wie man mit bestimmten Vorgängen umgeht, abhanden gekommen oder nie vorhanden gewesen.“ Das wäre allerdings absolut unsensibel von einem solchen Eindruck, wenn er einfach so völlig grundlos entstehen würde.

Denn natürlich hatte man keinesfalls etwas vertuschen wollen. Üüüüberhaupt nicht! Was, bitte sehr, was gäbe es denn zu vertuschen? Üüüüberhaupt nichts! Schließlich weiß es inzwischen jeder, daß diese Neonazi-Gruppen gar nicht existieren würden, wenn bei der Existenzgründung nicht eine großzügige staatliche Anschubfinanzierung nachgeholfen hätte. Daß man auf der anderen Seite den Anti-Nazi-Initiativen die öffentlichen Gelder zusammenstreicht, ist da nur logisch. Irgendwo muß das Geld ja herkommen, das die V-Leute kassieren, die als Existenzgründer letztlich auch die Existenz des Verfassungsschutzes sichern. Aber da es nun einmal der erklärte demokratische Auftrag dieser geheimen Staatsdiener ist, dafür zu sorgen, daß die Neonazis allesamt wieder verschwinden, läßt man als erstes die Akten verschwinden, so daß ihre Existenz fortan nicht mehr nachweisbar ist. 

Nicht immer klappt das allerdings so ohne weiteres. Deshalb kann man ja die NPD nicht verbieten. Dann müßte man nämlich vorher den gesamten Verfassungsschutz schreddern, bei dem – grob geschätzt – die Hälfte der NPD-Mitglieder auf der Lohnliste stehen. Auf diese Weise beobachten die Verfassungsschützer eigentlich ständig sich selbst. Kein Wunder, daß man da mal ein Auge zudrückt, zumal die rechte Pupille ohnehin vom Braunen Star befallen ist. Diese optische Behinderung führte auch im Aktenvernichtungs-Keller zu Berlin zu jenem Mißgriff, den die gewesene Behörden-Chefin so aufrichtig bedauerte. Da lagen nämlich zwei Haufen Akten, berichtete sie, gut sortiert einer links, einer rechts. Der rechte Stapel sollte noch einmal „entheftet“ werden, also auf möglicherweise weiterhin relevante Informationen überprüft werden. Doch in der behördlichen Sehbehinderten-Werkstatt lag dem Referatsleiter der Abteilung „Rechtsextremismus“ der rechte Haufen nun einmal näher, so daß der ohne weiteres Ansehen der darin enthaltenen Personen und Fakten reißwölfisch zerschnipselt wurde. Will man das dem halbblinden Mann nun wirklich vorwerfen? Er hatte eben falsch geguckt. Er hatte sich also ver-sehen. Daß man ihm dieses bedauerliche Versehen nicht nachsehen will, ist skandalös behindertenfeindlich. Doch nun wird auch er strafversetzt – wahrscheinlich zur links-observierenden Abteilung. Da führt schließlich so ein Knick in der geheimdienstlichen Optik zu schärferem Durchblick. Deshalb konnte die nun ge-exte Chefin auch zur Beruhigung der Öffentlichkeit mitteilen, daß die Akten über linke Aktivitäten vor einer möglichen Schredderung immer ordnungsgemäß gesichtet und „entheftet“ worden seien, so daß keine wichtigen Informationen verloren gegangen seien. Als ich das hörte, war ich wirklich erleichtert, denn nun darf ich davon ausgehen, daß auch ich nicht in Vergessenheit gerate. Schließlich habe ich schon des öfteren an Demonstrationen gegen Neonazis teilgenommen. Somit habe ich mir das Recht erworben, weiterhin sowohl öffentlich als auch geheim beachtet zu werden. In der Logik der Observierer gibt es dafür hinreichende Verdachtsgründe: Wer gegen Neonazis demonstriert, erweist sich als gemeingefährlich schizophren, denn solche Neonazis gibt es in der deutschen Realität gar nicht. Wenn es die gäbe, würden schließlich Akten über sie existieren.

Herr Henkel von der CDU, der Berliner Senator für das rechte Innenleben, hatte noch vor drei Wochen vor dem Untersuchungsausschuß amtseidlich versichert, daß in seiner Behörde keinesfalls irgendwelche Akten vernichtet worden wären. Und nun steht er da wie ein Blödmann. Was allerdings auch keine sensationelle Enthüllung wäre. Denn möglicherweise steht er nur deshalb wie ein Blödmann da, weil er tatsächlich einer ist. Wohlgemerkt: Möglicherweise. Ganz sicher kann man das nicht belegen. Wahrscheinlich hat Genaueres über seinen Geisteszustand in irgendeiner Akte des Verfassungsschutzes gestanden. Aber die ist garantiert ebenfalls im Reißwolf gelandet. Gewisse Dinge müssen nun mal geheim bleiben.